Besucherinnen erkunden mit dem Tablet die Ausstellung, Foto: LWL/Christoph Kniel
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Warum wir weniger vom besonderen Museum brauchen

Beim Nachdenken über das Thema Verzicht komme ich immer wieder an einen Punkt des Widerspruchs. Die Krisen bzw. die Verhältnisse, die zu den Polykrisen des noch frühen 21. Jahrhunderts führen (Ukrainekrieg, schwächelnde Wirtschaft, wankende Demokratien, menschengemachter Klimawandel etc.), sind erschöpfend, sie ermüden und entkräften, und zwar Mensch wie Erde. Der Ruf nach Verzicht ist in diesem Zusammenhang vollkommen nachvollziehbar. 

Und doch stellen sich mir die Fragen: Wo genau soll man mit dem Verzicht anfangen? Und müssen wir nicht vielmehr alles daransetzen und damit mehr machen, um die krisenhaften Verhältnisse zu verändern? Das heißt, geht es nicht eher um Wandel als um Verzicht? Um mögliche Antworten zu finden, ist zunächst eine historische Betrachtung der Museumspraxis notwendig:

Das öffentliche Museum als Ort des Zeigens, der Zurschaustellung, des Sammelns, Bewahrens und Forschens war zunächst Teil der „Ensembles sozialer Praktiken“ [1] einer sich etablierenden bürgerlichen Gesellschaft der Moderne. Als sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts die auf Massenphänomene ausgerichtete Moderne der Allgemeinheit hin zur Spätmoderne mit einer ausgeprägten Kultur der Singularitäten entwickelte,[2] änderte sich jeweils auch die Funktion des Museums. Die „Logik des Allgemeinen“ [3] der fortgeschrittenen Industriemoderne äußerte sich in Massenveranstaltungen und frühen Massenmedien wie Radio und Kino. Sie etablierte die „Volksbildung“ und damit einhergehend auch die Didaktik in der musealen Praxis. Diese Entwicklung ging mit dem totalitären Regime des Nationalsozialismus und dessen rassistisch motivierter Idee der Schaffung einer homogenen „Volksgemeinschaft“ jedoch eine grauenvolle Allianz ein. Der bildungspolitische Auftrag der Museen war mit der Darstellung deutscher Heldengeschichten eindeutig umrissen. In der Nachkriegszeit reagierten die Museen mit nüchternem Purismus auf die ideologische Indienstnahme des Nationalismus. Ergebnis war – in Ermangelung einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit – der Rückgriff auf das Konzept des „Musentempels“, in dem sich die Exponate zwar ästhetisch zur Schau gestellt, aber ohne jegliche Beschriftung allein durch die Wahrnehmung der Betrachter:innen selbst vermitteln sollten.[4] Es verwundert nicht, dass Museen damit nur noch für eine kleine Bevölkerungsgruppe zugänglich waren. Als sich Ende der 1960er-Jahre eine soziale Bewegung gegen die noch immer vorherrschende bürgerliche Disziplinierung zugunsten von mehr Freiheit zur Selbstverwirklichung formierte, äußerte man auch an den elitären, allein auf Ästhetisierung gerichteten Museen deutliche Kritik.[5] Die politische Forderung, „Kultur für alle“ erlebbar zu machen, mündete in Stellen für Pädagogik und Öffentlichkeitsarbeit [6] sowie – etwas zeitverzögert – in der Schaffung eines Instituts für Museumskunde (IfM) [7] und der Erhebung der Besuchszahlen durch das IfM. In der anschließenden spätmodernen „Gesellschaft der Singularitäten“ fand und findet die „Logik des Besonderen“ [8] mit ihrem Credo der Selbstverwirklichung bis in die Museumslandschaft hinein ihren Ausdruck in einem Wettbewerb um Einzigartigkeit. Immer häufiger setzen Museen Ausstellungen mit Spotlights, Architektur und mit immer neuen Medien spektakulär in Szene, präsentieren sie weltberühmte kunst- und kulturhistorische Highlights in Blockbuster-Ausstellungen, bringen sie mit verschiedensten Unterhaltungsformaten Spaß und Vergnügen ins Museum und entwickeln in Kooperation mit der Kreativwirtschaft neue digitale Erlebnisse, die den Museumsraum durchlässiger machen. In der hedonistischen Affektgesellschaft blieb der Erfolg nicht aus. Bis zur Pandemie 2020 stieg die Anzahl der Museumsneugründungen stetig und dem Institut für Museumsforschung meldete man bis zu diesem Zeitpunkt gleichbleibend hohe Besuchszahlen. In der krisengeschüttelten Gegenwartsgesellschaft erholen sich die Museen – wie andere Kultureinrichtungen auch – jedoch nicht so ganz vom Schock der Schließungen und auch nicht von der politischen Einordnung als Vergnügungsorte, die später als andere Institutionen wieder öffnen durften. Die Entrüstung war groß, schreiben sich die Museen selbst doch mehr gesellschaftliche Relevanz zu. Doch worin diese Relevanz genau besteht bzw. in Zukunft bestehen soll, darüber ist man sich nicht im Geringsten einig, wie der Streit um die neue ICOM-Definition zeigte.[9] Die nun seit dem 24. August 2022 gültige Museumsdefinition erweitert die Kernaufgaben des Museums durch die Konkretisierung des sozialen Raums. Museen sind nicht mehr nur die Orte der Dinge und ihrer Aufbewahrung, Präsentation etc., sondern sie tragen mindestens eine Mitverantwortung für das Gelingen der Förderung von Diversität, Nachhaltigkeit, Inklusion und kultureller Teilhabe. So wichtig und wohl auch richtig dieser Schritt ist, liegen die mit ihm verbundenen Konsequenzen noch nicht alle offen auf dem Tisch. Und damit komme ich zum Thema der Ausgabe neuesmuseum 24-3 zurück. 

Sowohl die Neuausrichtung der Museen nach ICOM als auch das Thema Verzicht folgen – wie die zuvor skizzierten großen Entwicklungslinien des Museums erahnen lassen – der gesamtgesellschaftlichen Bewegung einer Einschränkung zugunsten des Allgemeinwohls.[10] Damit wird auch für Museen Verzicht einsehbar, vernünftig und auf eine bislang unbekannte Weise fortschrittlich wahrgenommen. Das neue Maß ist nicht mehr die Steigerung, ein im besten Fall quantitativ messbares Mehr (z. B. mehr Besucher:innen, mehr Presseartikel …), sondern (auch) ein Weglassen. Am Beispiel der Nachhaltigkeit lässt sich dieser – bislang vor allem kulturpolitisch diskutierte – Wandel mit all seinen Konsequenzen am besten nachvollziehen: Teil der Nachhaltigkeitsdebatte sind die Aufforderungen, Ausstellungen mit weniger weltweiten Leihgaben, mit weniger aufwendiger Ausstellungsarchitektur und mit geringerer Durchlaufgeschwindigkeit durchzuführen. Doch so banal diese (Auf-)Forderungen sind, so schwer lassen sie sich realisieren. Denn: Sie brechen mit einer Praxis, die in Museen zwei bis drei Generationen lang eingeübt und durchgeführt worden ist. Die Prozesse, die Netzwerke, die Themen, das Programm, die personelle Ausstattung, die Regeln des Bewahrens, das Führungsverständnis etc. entsprechen so sehr der Logik des Besonderen und des Sich-überbieten-Wollens, dass sich trotz des Verständnisses für seine Notwendigkeit der Wandel im Schneckentempo vollzieht. Daraus ergibt sich meines Erachtens folgende Konsequenz: Wer von Verzicht spricht, muss zunächst die Logik des Besonderen durchbrechen. Dieser Weg kostet Überwindung. Leitungspersonen müssen zugunsten des Klimas und für sozial verträglichere Arbeitszeiten auf Anerkennung verzichten. Kurator:innen müssen die Haltung überdenken, alle Exponate im Original oder möglichst auf Vollständigkeit ausgerichtete Werkschauen zeigen zu wollen und stattdessen wieder stärker mit der eigenen Sammlung arbeiten. Designer:innen und Szenograf:innen müssen sich einer auf Wiederverwendung ausgerichteten Ästhetik verpflichten. Und last, but not least muss die Kulturpolitik anerkennen, dass Besuchszahlen nicht die einzig relevante Größe für den Erfolg eines Museums sein können. Um neue Wege wie diese etablieren zu können, braucht es wiederum Zeit zur Reflexion. Nehmen wir uns diese Zeit und lasst uns dafür auch mal eine Ausstellung oder ein Programm weniger machen.

Credits und Zusatzinfos: 

Anmerkungen

1  Rahel Jaeggi, Fortschritt und Regression, 2023, v. a. S. 119–126: „Ensembles sozialer Praktiken“ prägen nach Rahel Jaeggi eine Lebensform und damit die Weise, in der „eine Gesellschaft ihr Leben materiell und kulturell reproduziert“.   

3 Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, 2017, S. 40. 

4 Detlef Hoffmann, „Laßt Objekte sprechen!. Bemerkungen zu einem verhängnisvollen Irrtum“, in: Ellen Spickernagel, Brigitte Walbe (Hg), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Sonderband der Zeitschrift „Kritische Berichte“, Gießen 1976², S. 101.

5 Vgl. die Diskussionen in: Ellen Spickernagel, Brigitte Walbe (Hg), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Sonderband der Zeitschrift „Kritische Berichte“, Gießen 1976².  

6 Hierzu insbesondere Hilmar Hoffmann, Museen in kommunalpolitischer Sicht, in: Spickernagel, Walbe, Das Museum, S. 167–175.

7 Heute das Institut für Museumsforschung (12.04.2024)

8 Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, 2017, S. 71 ff.

9 Zur Chronologie der Auseinandersetzung: icom-deutschland.de/de/nachrichten/147-museumsdefinition.html (12.04.2024) 

10 Siehe hierzu das Gespräch „Pflicht wird zu einem progressiven Wert“ mit Andreas Reckwitz in Kulturfragen auf Deutschlandfunk  (12.04.2024).
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