
Foto: Birgit Johler
Inszenierungen. Der neue Trachtensaal im Volkskundemuseum Graz
Theatralisch, unheimlich, auch leblos – so muten die 42 lebensgroßen Figurinen an, denen Besucher:innen im sogenannten Trachtensaal im Volkskundemuseum in Graz begegnen. Vor über 80 Jahren vom Museumsgründer und Museumsleiter Viktor Geramb (1884–1958) installiert, stehen sie seither für eine „steirische Bekleidungsgeschichte“ von der Hallstattzeit bis ins 19. Jahrhundert. Lange Zeit wenig beachtet, wurde der Trachtensaal im Jahr 2003 im Zuge der damaligen Neugestaltung des Museums als „Museum im Museum“ reinszeniert, in seinen Entstehungszusammenhängen jedoch kaum kontextualisiert. 2016 hinterfragten Studierende des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Graz das bestehende Konzept und widmeten sich in einer temporären Installation dem „Heimischen“ der Tracht und dem „Unheimlichen“ der hölzernen Skulpturen.[1] Trotzdem war das Interesse an dieser „Zeitkapsel“ zunehmend schwindend. Nun wurde der Trachtensaal im Zuge der Neuaufstellung des Volkskundemuseums von Grund auf angefasst und aus wissenschaftshistorischer und museologischer Sicht erforscht. Inhalte und Akteur:innen wurden zeithistorisch eingeordnet, Vitrinen verschoben und andeutungsweise verpackt. Mit Trachtensaal : Inszenierungen, so der Titel der Neubearbeitung, will das Volkskundemuseum dieses komplizierte, auch unbequeme museale „Erbe“ – immerhin ist der Raum zwischen Deutschnationalismus, Austrofaschismus und Nationalsozialismus zu verorten – verstehbar oder zumindest verstehbarer machen.
Entstehungskontexte, Akteur:innen und Verstrickungen
Konzeption und Beginn der Arbeit am Trachtensaal fallen in die Zeit der Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und Errichtung der austrofaschistischen Diktatur 1933/34. Diese Entwicklung ging einher mit der Forcierung nationaler bzw. nationalistischer Strömungen, reaktionärer Gesellschaftsbilder und ließ das Land gegen die Großstadt antreten. Was die neue Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß unter anderem benötigte, hatte die Volkskunde schon lange in ihrem Talon: „Heimat“, „Volkskultur“ und „Volkstum“. Vorstellungen vom kulturell „Eigenen“ wurden zu expliziten Ressourcen für eine kulturpolitische Ideologie des „Österreichischen“ und die volkskundlichen Museen zu Orten, an denen „Tracht“, „Volkslied“ und „Volkstanz“ mit staatlicher Unterstützung propagiert wurden. In der Steiermark war Viktor Geramb als führender Volkskundler, Heimatpfleger und „Heimatschützer“ des Landes, Akteur und Profiteur dieses Systems. Im Jahr 1933 konnte er mit dem Bau des großen Gebäudetrakts, in welchem sich auch der Trachtensaal befindet, beginnen und mit der konkreten Arbeit am Trachtensaal ab 1936. Mit der Herstellung der Holzskulpturen wurden die Künstler Alexander Silveri und Hans Mauracher beauftragt[2], die Fachlehrerin Melitta Maieritsch rekonstruierte historische Kleidung, der Architekt Wilhelm Jonser plante Raum und Vitrinen. Der Trachtensaal ist allerdings nicht ausschließlich ein Projekt des Austrofaschismus: Im Dezember 1939 ist die Zustellung einer weiteren Zirbenholz-Figurine von Silveri ins Museum dokumentiert[3], und noch im März 1940 vermerkte Geramb eine „Figurinenberatung“[4] mit Silveri und Maieritsch in seinem Tagebuch. Und obwohl er aufgrund von Intervention von Grazer Universitätskolleg:innen mit Juli 1939 von seinem Lehrstuhl als ordentlicher Professor für Deutsche Volkskunde in den Ruhestand versetzt wurde – dies sollte ihm noch Jahrzehnte nach 1945 die Zuschreibung als ein vom NS-Regime verfolgter Wissenschaftler einbringen –, konnte Geramb an seiner „Trachtengalerie“ ungestört weiterarbeiten. Schließlich fügte sich die Repräsentation des „Eigenen“ und die „Doktrin der Volkstracht“[5] einwandfrei in die „Volkstums“-Ideologie des NS-Regimes. Sein Netzwerk aus früheren Zeiten mag ebenfalls hierzu beigetragen haben. Neben Josef Papesch, einem ehemaligen Mitstreiter aus dem Deutschen Schulverein Südmark und nunmehrigem NS-Kulturpolitiker in der Steiermark war auch der Bildhauer Hans Mauracher Teil der steirischen NSDAP-Spitze. Mauracher, wie Papesch vor 1938 illegaler Nationalsozialist, leitete ab 1939 die Sektion Bildende Künste der Reichskammer der bildenden Künste in der Steiermark. Mit ihm traf sich Geramb regelmäßig, um die Figurinen von Silveri zu besprechen.
Blick auf Vitrinendetails und auf eine volkskundliche Kleidungstheorie von gestern
Im neu inszenierten Trachtensaal sind die Biografien dieser im Raum versammelten Akteur:innen über QR-Codes abrufbar. Die im Vorfeld der Neuinszenierung angestellten Forschungen haben auch zum ersten Mal die einzelnen Figurinen und ausgestellten Kleidungsstücke konsequent berücksichtigt. Nun erfahren Besucher:innen aus unterschiedlichen Perspektiven Details über jede Figurine, darunter Sammlungsgeschichtliches über die einzelnen Textilien, oder auch welche Quellen und Vorlagen Geramb und sein Team wie nutzten, um die Kleidung zu rekonstruieren. Dabei konnte der Volkskundler übrigens wesentlich auf die Forschungen von Konrad Mautner zum Steirischen Trachtenbuch zurückgreifen.[6] Auch konnten dan der Recherchen nun erstmals historische Persönlichkeiten mit einzelnen Figurinen im Saal in Verbindung gebracht: Der „Ausseer um 1870“ mit einem der beiden berühmten Ausseer Pfeiferlbuam, die „Grundlseerin“ mit einer Nachbarin Konrad und Anna Mautners, der „Landbürger aus Weißkirchen“ mit einem dortigen Bürgermeister – um nur einige zu nennen.
Mit dem Trachtensaal argumentierte Geramb zeitlich und räumlich: Beginnend mit der Figur des „Hallstätter Bergmanns“ aus dem Salzkammergut sollte der Raum 2.500 Jahre steirisch gedachte Bekleidungsgeschichte in acht Vitrinen darstellen; mit der „Schladmingerin um 1870“ als letzte Figur im Saal bricht die Zeitschiene ab. Dies verwundert wenig, repräsentierte das ausgehende 19. Jahrhundert für den Volkskundler doch eine Epoche zwischen Modernisierung und Konservierung und eine Zeit, in welcher „Volkstracht“ neben dem „Ständischen“ und dem „Zweckmäßigen“ vor allem das „völkisch und örtlich Besondere“ aufwies, die zudem die „gestaltende Kraft des historischen Volkscharakters“ in sich vereine.[7] Mit der gruppenförmigen Anordnung der Figurinen in den Schaukästen intendierte Geramb eine spezifische Bildungsfunktion – er folgte einer gängigen Lehrmeinung über die kulturelle Evolution von der Ur- bis in die Neuzeit. Gleichzeitig sollte der Trachtensaal ein Gefühl für Stil, Form und Farbe vermitteln, um damit geschmacksbildend dem verpönten „Kitsch“ im Trachtenwesen – dem städtischen Mode-Dirndl und der „Sommerfrischlermode“ – entgegenzuwirken. Letzten Endes vermittelte der Trachtensaal eine vestimentäre Ordnungsvorstellung und fügte sich so in das Bild einer vom „christlich-sozialen Ständestaat“ wieder akzentuierten vormodernen Ständeordnung.
Trachtensaal : Inszenierungen. Was bleibt neu?
Wie schon bisher betreten Besucher:innen den Trachtensaal über den futuristisch anmutenden tunnelartigen Zugang, der das Haupthaus mit dem Raum seit 2003 verbindet. Die Anzahl der Vitrinen und Figurinen sowie deren Ordnung blieben gleich, trotzdem hat der Trachtensaal eine Veränderung erfahren: Die Hälfte der acht Vitrinen – jene, die Gerambs Kleidungstheorie von der „Urzeit“ bis in die Frühe Neuzeit repräsentieren und deren Kleider in den 1930er Jahren nachgeschneidert wurden – wurde zusammengeschoben. Die anderen vier Vitrinen stehen an ihrem ursprünglichen Platz. Ein Display aus schwarz lackiertem Holz ummantelt alle Vitrinen. Diese an Archivschachteln erinnernden Elemente sind Trägermedium für Inhalte und gleichzeitig Anlaufschutz für das historische Glas aus den 1930er-Jahren. Die verschobenen Vitrinen und die Analogie zum Depot deuten an: Die im Raum präsenten Darstellungen und Erzählungen sind heute kritisch zu hinterfragen und werden vom Museum andeutungsweise archiviert. In seiner Neubefragung und -inszenierung ist der Trachtensaal Ausgangspunkt für besondere Formen der Geschichtserfahrung im Museum. Als dichter volkskundlicher „Wissens- und Erfahrungsraum“ macht er komplexe wissenschaftliche und museologische Strategien sichtbar; er verweist auf die Funktionalisierung von Kultur bzw. Tracht durch Wissenschaft und Politik und sensibilisiert für die Konstruktion von kulturellen Identitäten und Vorstellungen von den „eigenen Wurzeln“, die mitunter ein enges gesellschaftliches Korsett schnüren.
In der Mitte des Trachtensaals ist dank der verschobenen Vitrinen ein Raum mit Ankunfts- und Aufenthaltsqualität entstanden. Hier gibt das Museum inhaltlich Orientierung, hier beginnen Führungen und Besucher:innen können das mehrteilige Wandbild von Franz Konrad betrachten. Schicht um Schicht (2022) hat der Grazer Künstler die „komplexen Verstrickungen der Produktion und Inszenierung einer ‚Heimatschutzkleidung‘ abgewickelt, um sie in seiner Arbeit künstlerisch gebrochen und in neuen Kontexten wieder aufzutragen“[8]. Der 15 Meter lange Bilderzyklus eröffnet unerwartete Perspektiven auf die Denk- und Handlungswelt Viktor Gerambs und ist schon aufgrund seiner Farbigkeit „Mitakteur“ einer veränderten Atmosphäre im Raum. Dies stimmt auch für das Video von Masoud Razavy Pour zu Tracht als gegenwärtiger vestimentärer Praxis, das am Ende des Raums Bezüge zur Welt heute und jenseits des Museums herstellt. Vor den drei Bildschirmen kommen regelmäßig Besucher:innen ins Gespräch – darüber, welche Faszination Tracht heute ausübt, welche Formen des Tragens und Zeigens von Tracht sichtbar, „erlaubt“ oder „nicht erlaubt“ sind oder wer heute aller Tracht trägt und warum. Schließlich ist Tracht beides: Kleidung zur Weitertragung traditioneller beziehungsweise fester Identitätskategorien, aber auch Ausdruck gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Ihre Reaktionen auf den Trachtensaal oder ihre Ansichten zu Tracht können Besucher:innen im Raum auch schriftlich hinterlassen – ein Vermittlungselement, hergestellt von der FAB Produktionsschule Graz, lädt dazu ein. Damit fügen sie den bereits vorhandenen Perspektiven im Raum weitere Stimmen hinzu.
Die Neuinszenierung des Trachtensaals reflektiert eigene museale Praktiken, spiegelt gegenwärtige Fragestellungen und gesellschaftliche Dynamiken. Ihr Display ist temporär und lässt so zukünftigen Interpretationen alle Möglichkeiten.
Permanent Link: www.doi.org/10.58865/13.14/233/6
Permanent Link: www.doi.org/10.58865/13.14/233/6
Credits und Zusatzinfos:
[1] Katharina Eisch-Angus (Hg.): Unheimlich heimisch. Kulturwissenschaftliche BeTRACHTungen zur volkskundlich-musealen Inszenierung (Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie, Sonderband). Wien, o.J. [2016]
[2] Wobei Silveri den weitaus größten Teil des Auftrags erhielt, er schuf 38 Figurinen.
[3] „Den ganzen Tag unausgeschlafen. Museum, franz. Aufgabe. Schloßbergschrifttum, Silveri b. mir. Neue Figur gebracht, begutachtet, […]“. Viktor Geramb, Tagebuch 31 (1939), Eintrag vom 5.12.1939. Volkskundemuseum am Paulustor, Archiv.
[4] Viktor Geramb, Tagebuch 32 (1940), Eintrag vom 1.3.1940. Volkskundemuseum am Paulustor, Archiv.
[5] So der Titel eines Beitrags von Geramb aus dem Jahr 1934, der im nationalsozialistischen Deutschland erschienen war: Viktor Geramb: „Zur Doktrin der Volkstracht“, in: Jahrbuch für historische Volkskunde, Bd. 3,4. Die Sachgüter der Deutschen Volkskunde, Berlin 1934, S. 195–220.
[6] Der Trachten- und Volksliedforscher Konrad Mautner (1880–1924) war es, der die Idee zu einem Steirischen Trachtenbuch hatte. Ab 1932 erschienen zwei Bände in mehreren Lieferungen, herausgegeben von Viktor Geramb und Konrad Mautner (als erstem Herausgeber).
[7] Viktor Geramb: „Zur Doktrin der Volkstracht“, ebda.
[8] Aus dem Wandtext von Silvia Stecher.
Fußnoten:
[1] Katharina Eisch-Angus (Hg.): Unheimlich heimisch. Kulturwissenschaftliche BeTRACHTungen zur volkskundlich-musealen Inszenierung (Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie, Sonderband). Wien, o.J. [2016]
[2] Wobei Silveri den weitaus größten Teil des Auftrags erhielt, er schuf 38 Figurinen.
[3] „Den ganzen Tag unausgeschlafen. Museum, franz. Aufgabe. Schloßbergschrifttum, Silveri b. mir. Neue Figur gebracht, begutachtet, […]“. Viktor Geramb, Tagebuch 31 (1939), Eintrag vom 5.12.1939. Volkskundemuseum am Paulustor, Archiv.
[4] Viktor Geramb, Tagebuch 32 (1940), Eintrag vom 1.3.1940. Volkskundemuseum am Paulustor, Archiv.
[5] So der Titel eines Beitrags von Geramb aus dem Jahr 1934, der im nationalsozialistischen Deutschland erschienen war: Viktor Geramb: „Zur Doktrin der Volkstracht“, in: Jahrbuch für historische Volkskunde, Bd. 3,4. Die Sachgüter der Deutschen Volkskunde, Berlin 1934, S. 195–220.
[6] Der Trachten- und Volksliedforscher Konrad Mautner (1880–1924) war es, der die Idee zu einem Steirischen Trachtenbuch hatte. Ab 1932 erschienen zwei Bände in mehreren Lieferungen, herausgegeben von Viktor Geramb und Konrad Mautner (als erstem Herausgeber).
[7] Viktor Geramb: „Zur Doktrin der Volkstracht“, ebda.
[8] Aus dem Wandtext von Silvia Stecher.