
Foto: ICOM
Die Kompromissformel
Der Weltverband der Museen ICOM hat eine neue Museumsdefinition beschlossen
Von:
Anna Leshchenko (wissenschaftliche Mitarbeiterin, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen), Thomas Thiemeyer (Professor für Empirische Kulturwissenschaft, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard Karls Universität Tübingen), Tübingen
Die Erleichterung war groß, als die Mitglieder des Weltverbandes der Museen ICOM bei ihrer Generalkonferenz in Prag 2022 mit 92 % der abgegebenen Stimmen eine neue Museumsdefinition beschlossen und damit die bislang größte Krise des Verbandes beendet hatten. Ausgelöst hatte sie 2019 die Frage, was ein Museum sei. Seit 1946 definiert ICOM in regelmäßigen Abständen, was es unter einem Museum und seinen Aufgaben versteht. In der Regel verändert es die bestehenden Definitionen behutsam. 2019 aber hatte der damalige Vorstand einen komplett neuen Text seinen Mitgliedern zur Abstimmung vorgelegt, der viel Kritik auslöste, bei der Abstimmung durchfiel und in der Folge zu einer Reihe von Rücktritten führen sollte. Etlichen Mitgliedern missfiel der latent museumskritische Grundton des damaligen Vorschlags, der von der Institution mehr Transparenz und Selbstreflexion erwartete und ihre Autorität relativierte. Zu verblasen erschienenen einigen Kritiker:innen darüber hinaus die großen Schlagworte von Menschenwürde, Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und „planetary wellbeing“, für die Museen in der Verantwortung stünden. Dafür fand das Kulturerbe als Alleinstellungsmerkmal der Institution keinen Platz mehr im Definitionsvorschlag, der sich eher wie eine zukunftsgerichtete und stark wertegeleitete Vision für die Museen las und weniger als eine Definition, die den Status quo beschreibt.[1]
Seitdem hat sich ICOM mit seinen Nationalkomitees und Arbeitsgruppen intensiv mit der Definitionsfrage beschäftigt, Diskussionsrunden organisiert und in einem ebenso aufwendigen wie technokratischen Beteiligungsprozess versucht, jene Begriffe und Themen zu finden, die für die Mitglieder wichtig sind. Das ist sehr ambitioniert für einen Verband mit rund 45.000 Mitgliedern aus mehr als 120 Ländern, der sich in 157 Komitees und Regionalallianzen gliedert und aus allen denkbaren Disziplinen zusammensetzt; ein Verband zudem, der alle Museen weltweit repräsentieren soll – kleine ehrenamtlich geführte Heimatmuseen genauso wie staatliche Nationalmuseen, Kunst-, ethnologische oder Technikmuseen, Museen in Demokratien und Autokratien.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig erstaunlich, dass die Revolution ausblieb und nun die Kompromissformel siegte. In ihrer englischen Orginalversion lautet sie: „A museum is a not-for-profit, permanent institution in the service of society that researches, collects, conserves, interprets and exhibits tangible and intangible heritage. Open to the public, accessible and inclusive, museums foster diversity and sustainability. They operate and communicate ethically, professionally and with the participation of communities, offering varied experiences for education, enjoyment, reflection and knowledge sharing.“[2]
Dieser Text tut in liberalen Gesellschaften niemandem weh und verzichtet auf Reizworte wie Restitution, Dekolonisierung oder Deakzessionierung, also das Abgeben von Objekten aus den Sammlungen. Die inzwischen stark problematisierten Tätigkeiten des Sammelns und Bewahrens lesen sich hier wie neutrale Aufgaben, die Museen schlicht verrichten. Um die heißen Themen der Gegenwart, die die Museumsszene polarisieren und substanzielle Zugeständnisse der Institution einfordern würden, macht der Text einen Bogen. Statt kritisch ist er eher affirmativ, schenkt der Institution, die er beschreibt, einen Vertrauensvorschuss. Ein großer Wurf sieht anders aus.
Liest man den Text hingegen als Resultat internationaler kulturpolitischer Verhandlungen, fällt das Fazit besser aus: Mit der neuen Definition gelingt es ICOM, den Streit der letzten Jahre beizulegen und Brücken zu bauen. Erstmals wurden substanziell Mitglieder aus dem Globalen Süden (insbesondere aus Südamerika) und aus der jüngeren Generation beteiligt. Vor allem aber ist ICOM handlungsfähig geblieben: Wäre der Verband mit einer revidierten Definition erneut gescheitert, hätte das nicht nur sein Ansehen beschädigt, sondern auch seinen Einfluss in der internationalen Kulturpolitik gefährdet. Die ICOM-Museumsdefinition ist in einigen Ländern und internationalen Dokumenten rechtlich relevant. Der jetzt verabschiedete Text ist vage genug, um ganz unterschiedlich interpretierbar und anschlussfähig zu sein (weshalb die Übersetzungen in die unterschiedlichen Landessprachen wichtig sind), und in ihm ist die Vorgängerdefinition von 2007 deutlich erkennbar. So kann er seinen rechtlichen und politischen Status besser verteidigen, weil sein Inhalt nicht grundlegend neu verhandelt werden muss.
Inhaltlich hat der Verband die bislang gültige Definition partiell an die Gegenwart angepasst: Er hat das Kulturerbe, das 2019 kurz zur Disposition stand, als zentrale Bezugsgröße des Museumsauftrags beibehalten. Die klassischen Museumsaufgaben Forschen, Sammeln, Bewahren und Ausstellen hat er um „Interpretieren“ ergänzt und dafür den Begriff „bekannt machen“ („communicate“) entfernt. Die Museen, die ICOM beschreibt, „teilen“ Wissen statt – wie in einer früheren Textversion – Wissensbestände zu „erweitern“. Die selbstsichere epistemische Autorität früherer Zeiten ist diesen Museen fremd geworden – zumindest in der Theorie. Stattdessen „reflektieren“ sie ihre Position in der Gesellschaft und sind sich bewusst, dass sie Deutungsangebote machen, die offen für Kritik und andere Sichtweisen bleiben. Diese selbstreflexive Haltung festzuschreiben ist längst überfällig. Ob sie für Museen aus Ländern, deren Regierungen nichts von Meinungsfreiheit und anti-autoritären Kulturinstitutionen halten, mehr als ein Lippenbekenntnis sein kann, ist allerdings fraglich.
Sieht man dieses politische Spannungsfeld und berücksichtigt, dass die liberalen demokratischen Wohlfahrtsstaaten bei ICOM nicht unter sich sind, muss man anzuerkennen, dass die Definition Museen auf Nachhaltigkeit, Zugänglichkeit, Inklusivität und Diversität verpflichtet. Letztere Begriffe zielen speziell auf marginalisierte gesellschaftliche Gruppen und werden dort, wo Homosexuelle oder ethnische Minderheiten politisch unterdrückt sind, ein Statement sein. Dass die 2019 vorgebrachte Idee, Demokratie und Vielstimmigkeit als ethische Selbstverpflichtung aufzunehmen, in einem schlichten „Museen arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und beteiligen Communities“ auf- oder besser untergegangen ist, ist wohl der Preis, der für die hohe Zustimmung zu entrichten war.
All diese Begriffe sind freilich so offen, dass sie viel Auslegungsspielraum lassen. Aber sie helfen, dass Museen aus aller Welt weiter in Kontakt bleiben und miteinander reden können, weil sie eine gemeinsame Basis teilen. Das ist dringend nötig in Zeiten, in denen Wissenschaft und Kultur Weltgegenden verbinden müssen, die sich politisch und wirtschaftlich separiert haben. Letztlich setzt die Definition ohnehin nur einen Rahmen. Entscheidend wird sein, wie die Museen ihn füllen.
Dieser Text ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, der am 28. September 2022 unter dem Titel „Planetares Wohlbefinden als Kompromissformel“ in der FAZ erschienen ist.
Credits und Zusatzinfos:
Fußnoten
[1] Vgl. dazu Thomas Thiemeyer, „Politisch oder nicht: Was ist ein Museum im 21. Jahrhundert?“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10, 2019, S. 113–119.
[2] Die deutsche Übersetzung lautet: „Ein Museum ist eine nicht gewinnorientierte, dauerhafte Institution im Dienst der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und partizipativ mit Communities. Museen ermöglichen vielfältige Erfahrungen hinsichtlich Bildung, Freude, Reflexion und Wissensaustausch.“, https://icom-deutschland.de/de/aktuelles/museumsdefinition.html (3.8.2024)
Empfohlene Zitierweise
Fußnoten
[1] Vgl. dazu Thomas Thiemeyer, „Politisch oder nicht: Was ist ein Museum im 21. Jahrhundert?“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10, 2019, S. 113–119.
[2] Die deutsche Übersetzung lautet: „Ein Museum ist eine nicht gewinnorientierte, dauerhafte Institution im Dienst der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, barrierefrei und inklusiv, fördern Museen Diversität und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und partizipativ mit Communities. Museen ermöglichen vielfältige Erfahrungen hinsichtlich Bildung, Freude, Reflexion und Wissensaustausch.“, https://icom-deutschland.de/de/aktuelles/museumsdefinition.html (3.8.2024)
Empfohlene Zitierweise
Anna Leshchenko, Thomas Thiemeyer: Die Kompromissformel. Der Weltverband der Museen ICOM hat eine neue Museumsdefinition beschlossen, in: neues museum 24/4, www.doi.org/10.58865/13.14/244/1.