Entsammelte Objekte neu inszeniert: Umsetzung aus dem Projekt Accumulated Garments an der Hochschule für Kunst und Design (HEAD), Genf unter der Leitung von Elizabeth Fischer; Foto: HEAD─Genève, Raphaëlle Mueller
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#AltSuchtNeu
Museum entlässt gemeinsam mit der Bevölkerung Objekte aus seiner Sammlung, die es nicht mehr will
Von: Rebecca Häusel (Museum Chüechlihus), Langnau im Emmental

Das Regionalmuseum blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück. Es befindet sich in Langnau im Emmental in der Schweiz im 1526 erbauten Chüechlihus. Im Jahre 1930 bezog das Museum seine Räumlichkeiten und wurde seither laufend ausgebaut.

Heute bietet es als eines der größten und vielfältigsten Regionalmuseen in der Schweiz lebendige Einblicke in das Kulturerbe des Emmentals, von der Alpkäserei bis zum Eishockeyclub SCL Tigers. Mit Wechselausstellungen und anderen Formaten zu aktuellen Themen werden regelmäßig Menschen ins Museumsgeschehen involviert und neue Gäste ins Emmental gelockt.

Neues Kapitel: Umzug in ein neues Depot 

Das Museum besitzt eine kulturhistorische Sammlung von gut 25.000 regional bis national bedeutsamen Objekten, die das Leben der Region Emmental dokumentieren. Im Herbst 2020 begann hier mit der Zusammenlegung aller Depots ein ehrgeiziges Vorhaben. Verstreut über zehn Standorte im Dorf, entsprachen viele der Räumlichkeiten des Museums, die es als Aufbewahrungsort für seine Sammlung nutzte, nicht mehr den aktuellen Museumsstandards. Die Zeit war reif, alle Schätze an einem zentralen Ort zu vereinen, um den Anforderungen an ein zeitgemäßes Depot gerecht zu werden.

In einer umfangreichen Aktion bearbeitete das Sammlungsteam Tausende Kulturgüter. Während dieses Prozesses wurden einige Objekte identifiziert, die entweder mehrfach vorhanden oder nicht dokumentiert waren und teilweise keinen Mehrwert (mehr) für das Museum boten. Auf dies Herausforderung reagierte das Regionalmuseum Chüechlihus mit der Lancierung eines auf drei Jahre angelegtes Entsammlungsprojektes.

Zukunftsorientierte Sammlungspflege

Bei diesem Projekt geht es nicht nur darum, Objekte aus der Sammlung auszusortieren und wegzugeben und damit die Sammlung zu schärfen, sondern auch darum, diese Entsammlung transparent zu kommunizieren und die Bevölkerung miteinzubeziehen. Nachdem das Thema Deakzession jahrelang ein Tabu in Schweizer Museen war, ist dieser Weg ungewöhnlich. Simon Schweizer, Projektleiter und Sammlungsbetreuer im Regionalmuseum Chüechlihus, ist jedoch überzeugt: „Unter den richtigen Voraussetzungen und unter Einhaltung gesetzlicher und ethischer Standards ist das Aussondern von Museumsobjekten nicht nur vertretbar, sondern für eine verantwortungsvolle Sammlungspflege sogar notwendig.“
Seit 2022 sortiert das Regionalmuseum Chüechlihus deshalb bestimmte Sammlungsobjekte aus – nicht im stillen Kämmerlein, sondern gemeinsam mit der Bevölkerung und mit der Öffentlichkeit.

Motto „Alt sucht Neu“

Unter dem Motto #AltSuchtNeu präsentiert das Museum jährlich ausgewählte Objekte, die der Sammlung und der Ausstellung keinen Mehrwert bieten, in einer Ausstellung und auf der Plattform www.entsammeln.ch.

Eine öffentliche Projektlancierung bietet jeweils einen ersten Einblick in die Objektauswahl, die von Museumsmitarbeitenden vorab gemacht wird. Die Gegenstände dürfen im Museum angefasst werden. Emmentaler Einwohner:innen sowie Heimatberechtigte sind in dieser Phase eingeladen, darüber abzustimmen, welche Kulturgüter das Museum tatsächlich entsammeln soll. „Wir sind eine öffentliche, regionale Institution. Das Kulturgut gehört dementsprechend der Emmentaler Bevölkerung. Da es von hier kommt und die Geschichte der Region widerspiegelt, besitzen alle Emmentaler:innen ein Mitspracherecht. Sie entscheiden mit, was mit den Objekten geschieht“, begründet die Museumsleiterin Carmen Simon diesen Schritt.

Danach erhalten alle Interessierten die Möglichkeit, sich mit einer guten Idee für einzelne oder mehrere Gegenstände zu bewerben – auch Personen und Institutionen außerhalb der Region. In der dritten Phase eines Entsammlungsdurchgangs stimmen wiederum die Emmentaler:innen über die eingegangenen Vorschläge zur Weiterverwendung der Objekte ab. Ein Gremium, bestehend aus Vertreter:innen der regionalen Bevölkerung und Fachleuten aus Museum, Verwaltung und Politik, begleitet den gesamten Prozess. Der so genannte Objektrat #AltSuchtNeu [1] entscheidet mit, welche Objekte entsammelt werden und wer sie erhält. Die Online-Abstimmung der Bevölkerung fließt in den abschließenden Entscheid mit ein.
Während des Jahres finden diverse Aktionen und regelmäßig Veranstaltungen [2] statt. Die Objekte, die das Museum weggibt, werden am Chüechlihus-Sunndig [3], jeweils am ersten Sonntag im September, von ihren neuen Besitzer:innen abgeholt. Der Anlass wird von einem vielfältigen Rahmenprogramm begleitet.

Emmentaler Kulturgut wiederbelebt: ein Beispiel

Im Entsammlungsjahr 2022 wurde ein altes Brätzelieisen aus Gusseisen aus der Sammlung entlassen, das eine bemerkenswerte Wiederverwertung erfuhr [4]: Ursprünglich auf einem Holzkochherd verwendet, um Süßgebäck herzustellen, dient es jetzt der Stiftung intact aus Burgdorf zur Herstellung von einzigartigem Baumschmuck für Weihnachten oder Ostern.
Die kunstvollen Stern- und Blumenornamente aus dem 19. Jahrhundert werden in integrativer Arbeit zu neuem Leben erweckt. Aus dem 150 Jahre alten Brätzelieisen entstehen Porzellan-Anhänger mit verschiedenen Motiven. Dieser außergewöhnliche Baumschmuck ist im Shop des Regionalmuseums Chüechlihus erhältlich und wurde dort mittlerweile auch in ein Vermittlungsformat, die Brätzeliroute, integriert. Die Keramikgüsse mit dem historischen Brätzelieisen sind nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern tragen mit ihrer Neuinterpretation auch zur Vermittlung, zur Erhaltung und zur Weiterentwicklung des Emmentaler Kulturerbes bei. Außerdem zeigt dieses Beispiel auf, dass eine partizipative Entsammlung den Gegenständen ein drittes Leben ermöglichen kann, indem sie wieder Teil eines Kreislaufes werden. Die sinnvolle Wiederverwendung von Gegenständen ist nicht nur nachhaltig, sondern bereitet auch Freude. Das Projekt stärkt damit das Bewusstsein für den Wert von Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung.

Kulturerbe im Dialog

Das Regionalmuseum Chüechlihus trägt als öffentliche Kulturinstitution zum verantwortungsvollen Umgang mit dem regionalen Kulturerbe bei. Als Austausch- und Begegnungsort werden Brücken zwischen der Sammlung und der Bevölkerung sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen, um so eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Das Museum will nicht nur ein Ort der Aufbewahrung, sondern auch ein Ort der Verhandlung des materiellen und immateriellen Kulturerbes der Region Emmental von gestern bis heute sein.

Mit der öffentlichen Entsammlung schafft das Regionalmusem Chüechlihus zusätzliche Gefäße, in denen sich eine zunehmend pluralistische Gesellschaft sich über das Thema des Kulturerbes begegnet und miteinander in Austausch kommt. Zudem bleibt die Sammlung des Museums im Gespräch, was zur Identifikation mit ihr beiträgt und sie langfristig sichert.
Durch die Beteiligung der Bevölkerung wird dafür gesorgt, dass alle Entscheidungen im Einklang mit den lokalen Interessen und Bedürfnissen getroffen werden. Das transparente Vorgehen schafft zusätzlich Verständnis für die Museumsarbeit. Jede Sammlung braucht Pflege und Sorgfalt – dafür ist das Museum unter anderem auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen und auf die Gewissheit, dass diese die Museumsarbeit als relevant betrachtet.

Innerhalb und außerhalb der Museumsmauern wird deshalb auf partizipativen Wegen (neues) Wissen rund um das gemeinsame Kulturerbe produziert. Für das Museum bedeutet dies auch, bisherige Abläufe und Selbstverständlichkeiten zu überdenken und diese teilweise loszulassen. Die Aktion trägt zur Ausarbeitung neuer Herangehensweisen der Sammlungspflege bei und inspiriert zu neuem Umgang mit Objekten in Museen.

Das Entsammlungsprojekt erregt nicht nur in der näheren Umgebung Aufmerksamkeit, sondern über die Grenzen des Kantons Bern und der Schweiz hinaus.[5] Eine Publikation zum Projekt kann kostenlos bestellt werden (entsammeln.ch/projekt/#diepublikation). In diesem Jahr werden unter anderem Bilderrahmen, Werkzeuge, Kerzenständer, Textilien, Sofas und Vitrinen entsammelt (www.entsammeln.ch/die-objekte)! 

Credits und Zusatzinfos: 

Anmerkungen

1  entsammeln.ch/news/erstes-treffen-des-objektrats/ (12.04.2024)

2 entsammeln.ch/anlaesse/ (12.04.2024)

3 entsammeln.ch/news/chueechlihus-sunndig-2023/ (12.04.2024)

4 entsammeln.ch/news/weihnachtsschmuck-aus-historischem-braetzelieisen/ (12.04.2024)

5 entsammeln.ch/news/medienecho-zum-projektstart-altsuchtneu/ (12.04.2024)
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